Objekte und Orte finden, erforschen, (um)gestalten
Beispiel: Bismarckbahnhof
SS 1996 Seminarnotizen: Melanie Tech: Melanie Tech: Christina Rath:
Einhergehend mit dem Seminarthema wählten wir uns einen Ort, der uns als
Handlungsraum für unsere praktische Arbeit dienen sollte. ("Raum"
als "Ort, mit dem man etwas macht", Michel de Certeau). Dieser „Handlungs-Ort“
musste sich in Uninähe befinden und neben seiner eingebundenen Funktionalität
einen Spielraum ermöglichen, in dem wir selber "formen" konnten.
Unser Ort sollte ein eigenes Charisma besitzen und über die uns vermittelten
Eindrücke die Funktionalität überlagern. Marc Augé trennt
in seinem Buch "Orte und Nicht-Orte" (z.B. Transiträume wie Bahnhöfe
und Flughäfen) voneinander und definiert einen Ort als gekennzeichnet durch
"Identität, Relation und Geschichte". Wir entschieden uns sehr
schnell für den Bismarckbahnhof, der in seinen vielen Anknüpfungspunkten
für eine praktische Arbeit nicht sofort eine bestimmte Idee forderte und
uns Freiraum für verschiedene Ansätze ließ. Bezüglich des
Seminarthemas und der Thematisierung von "Orten" schien uns der Bismarckbahnhof
aufgrund funktionaler, historischer und architektonischer Aspekte gut geeignet.
Berit Lorenz:
Es ist eine eigene Atmosphäre, die ich gerade in dieser Unterführung
empfinde und die sich nicht auf den gesamten Bereich des Bahnhofs übertragen
läßt. Man tritt von einer lauten stark befahrenen Straße in
eine Art Tunnel. Dieser ist auf beiden Seiten von einer Steinmauer eingefaßt
und wird nach oben von einer massiven Eisenkonstruktion begrenzt. Trotz Massigkeit
(zum Teil aufgebrochen durch filigraner wirkende Eisenstangen) beschleicht einen
nicht das sonst übliche Angst- oder Furchtgefühl, da der Ausgang mit
seiner grün ruhigen Helligkeit stets sichtbar bleibt. Selbst den Lichtschacht
in der Mitte der Unterführung nahm ich erst durch bewußtes Einlassen
auf diesen Ort wahr. Das Grundgefühl ist geprägt vom schnellen Durchqueren-Wollen
der Unterführung, um auf die ländlich gelegenere Seite zu gelangen.
Umgekehrt stellt sich dieses Gefühl nicht ein...
Ist es ein (un-)bewußt gewählter Ort der Flucht / Zuflucht, den wir
uns gesucht haben? Ein Bahnhof noch dazu, der einem in der Funktion des Ortes
diese Flucht ermöglichen könnte... ?
Die Atmosphäre (des Ortes) wird aus dem "Tunnelgefühl",
der Besonderheit alter Säulen und einer Menge Müll, den der Mensch
dort hinterläßt, erzeugt. Sicher spielen jedoch auch eine Anzahl
undefinierbarer Eindrücke eine Rolle. Ein weiterer Ansatzpunkt bot sich
in der (Zeit-)Geschichte des Bahnhofs, dessen "Blütezeit" man
an einigen "Überbleibseln" nachvollziehen kann. Auch dieser Aspekt
wurde durch die Atmosphäre verstärkt, die beispielsweise durch die
noch vorhandenen steinernen Reichsadler ein fremdartiges Gefühl auslöste.
Die Adler verdeutlichten als dominantes materielles Symbol die nicht mehr greifbare
Zeit zu Beginn dieses Jahrhunderts. Zum Ansatz der Zeitgeschichte gehörte
für uns ebenso das in der ehemaligen Bahnhofshalle neu entstandene Restaurant
mit modernem Anbau sowie die alten Gleisanlagen mit dazugehörigem Treppenaufgang,
deren alte Mosaikfußbodenbeläge als gestaltender Schmuck - einträchtig
neben Graffiti - einen besonderen Reiz bieten.
Die theoretischen Inhalte (des Seminars) brachten zum Teil erhebliche Zweifel,
was die praktische Umsetzung unserer Ideen betraf. Hierbei denke ich insbesondere
an den Text von Reinhold Knodt, "Ästhetische Korrespondenzen. Denken
im technischen Raum". Nach der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der
eben genannten Literatur diskutierten wir den Begriff "Orte" und ihre
Wirkung bzw. ihre Veränderbarkeit noch einmal neu, hinterfragten wir den
Ansatz unserer praktischen Arbeit. (...) Es ist gerade bei dieser Arbeit darüber
nachzudenken, ob wir mit unseren Figuren nicht eine weitere Form von Müll
(Pappe, Bänder...) installiert haben, zumal wir als ein Teilaspekt auf
diesen Mißstand im Bereich der Unterführung aufmerksam machen wollten.
Unseren ersten Ansatz, den Müll vor Ort in unsere Arbeit einzubeziehen,
konnten wir aufgrund unseres ästhetischen Empfindens nicht beibehalten.
Die Verbindung von Therorie und Praxis hatte ich so wie in diesem Seminar noch
nicht praktiziert. Mir wurde einmal mehr bewußt, wie unerfahren ich im
Umgang mit projektorientierten Arbeiten bin, eine Arbeitsform, die in den Schulen
schon fast integriert ist, ich aber selbst nicht in meiner eigenen Schulzeit
erlebt habe. Es war sehr interessant, sich sowohl mit einer nicht so vertrauten
Arbeitsform auseinanderzusetzen als auch in ein bis dahin unbekanntes Themengebiet
der Kunst einen Einblick zu bekommen. Das Seminar war für mich somit auf
vielerlei Ebenen eine Herausforderung und neue Erfahrung im Umgang mit künstlerischen
Prozessen.
Berit Lorenz:
Ja, es ist der Weg gewesen, sichtbar gemacht durch viele kleine Prozesse, die
mir jetzt nach mehreren Monaten noch im Gedächtnis geblieben sind. Dies
merke ich nicht zuletzt daran, daß ich jetzt meinen Arbeitsweg, zumindest
unter dieser Unterführung, bewußter wahrnehme. Es bleibt eine Erinnerung
an ,eine gemachte Erfahrung, auch wenn mich schon längst keine Pappfiguren
mehr dazu einladen, da diese schon zwei Tage nach Fertigstellung verschwunden
waren. So bleibt (...) die Anregung zu einer neuen Sicht- und Handlungsweise,
für ein langsam aber stetes sich-Öffnen der Sinne, gefolgt von einem
bewußteren Nachdenken über die Dinge, die man tut.
Seit dem Sommersemester 1999 existiert ein kurzer Videofilm zum Thema Bismarckbahnhof, hervorgegangen aus der Vorlesung zum Dekonstruktivismus und erarbeitet von der Videogruppe mit Gertrud Schrader.