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"DAS BAUMGRAB"
Ein Gang durch die Insellandschaft Mön führte mich über Weiden hinein in ein kleines Waldstück.
Beim Durchqueren des Waldstücks, bewegte ich mich zunächst auf dem bestehenden Weg. Dabei versuchte ich, einen eigenen Rhythmus beim Gehen zu entwickeln. Es war niemand bei mir, dessen Tempo ich übernehmen mußte und es trieben mich keine zeitlichen Verpflichtungen voran. Ich hatte auch keinen bestimmten Weg im Kopf, sondern ließ mich von meiner Intuition leiten. Die Schwierigkeit lag darin, gleichzeitig mich selbst, also meinen inneren Rhythmus, und meine Umgebung wahrzunehmen.
An einer Stelle links des Weges führte ein Hügel nach oben, bewachsen von Bäumen. Der Boden sah sehr matschig aus, ganze Kuhherden mußten ihn bereits überquert haben. Mein Blick schweifte den Hügel hinauf und ich wurde neugierig. Ich fragte mich, wie es dort oben aussah, hinter dem Hügel und wie die Aussicht von dort oben sei.
Ich entschloss mich, nachzusehen und ging den Hügel langsam hinauf. Oben angelangt fand ich mich inmitten einiger Bäume, durch deren maigrünes Laub an einigen Stellen die Sonne schien. Auf dieser Art Lichtung lag ein toter, zum Teil schon wieder zu Erde gewordener Baumstamm.
Lange Zeit betrachtete ich ihn und war vom ersten Moment an fasziniert. Die Plazierung des Baumstammes in der Mitte des Hügels und die Vergänglichkeit des Holzes riefen in mir die Assoziationen einer letzten Ruhestätte hervor. Das absolut Friedliche, Positive, aber auch Mystische, das diese Situation ausstrahlte, beeindruckte mich, und ich beschloss, an diesem Ort zu arbeiten.
     BESCHREIBUNG DER SITUATION TROUVEE
Baumstamm
Der Baumstamm war unmittelbar umgeben von altem, trockenen Laub und kleinen, abgestorbenen Ästen. Ringsherum wuchsen kleine, hellgrüne Pflänzchen, die nicht bzw. nur vereinzelt bis an den toten Baumstamm heranwucherten. Dadurch entstand eine sehr unregelmäßige "Grenze" zwischen totem Baumstamm und lebendigen Pflänzchen.
Der Stamm selbst war äußerst morsch und in der Mitte schon wieder zu Erde zerfallen. An manchen Stellen war er von Moos bewachsen.
Ich konnte nicht mehr genau feststellen, wo oben und unten gewesen sein könnten, da der Stamm nicht mehr in der Erde verwurzelt war bzw. gar kein Wurzelwerk mehr zu sehen war. Der Stamm wirkte wie ein herausgeschnittenes Mittelstück eines Baumes. Wo war der Rest geblieben und wie war dieses Stück hierhergekommen? Diese Entwurzelung faszinierte mich. Außerdem wirkte der ganze Ort sehr unaufgeräumt, fast unausgeglichen.
Meine Intention war, diesem gestorbenen Baum eine letzte Ehre zu erweisen, sozusagen der Natur Tribut zu zollen und dieser Ruhestätte den passenden Rahmen -im wahrsten Sinne des Wortes - zu geben. Um die Aufmerksamkeit von der Unordnung, welche auf dem Waldboden herrschte, auf den Baum zu lenken, beschloss ich, die unregelmäßigen Konturen zu begradigen und den Baum quasi in einen Sarg einzubetten.
ARBEITSPROZEß
Als ich mit der Arbeit beginnen wollte, stellte sich die Frage nach den technischen Hilfsmitteln.
Sollte ich mit Hilfe einer Schaufel arbeiten oder nicht?
Sollte ich Farbpigmente verwenden, um die Grenze zwischen brauner Erde und grünen Pflanzen zu betonen?
Sollte ich Bindfäden um in die Erde gesteckte Pflöcke spannen, um eine Abgrenzung zu markieren?
Nach Überlegungen dieser Art, kam ich zu dem Schluß, ausschließlich mit den vorhandenen Naturmaterialien zu arbeiten und keinerlei Hilfsmittel zu benutzen.
Die Situation ließ es meiner Meinung nach nicht zu, beispielsweise Farbpigmente zu verwenden, da ich diese als Fremdkörper empfunden hätte. "Das Material wird zum Medium, das die zeichenhafte und symbolische Aussage des Werkes maßgeblich beeinflußt."(Udo Weilacher)
DAS LAUB
Ich entschloß mich, als ersten Schritt das trockene Laub sowie die Erde darunter zu bearbeiten. Da ich keinerlei Hilfsmittel benutzen wollte, blieben mir nur Hände und Füße, um einen Rahmen zu schaffen. Das Laub schob ich ringsherum dicht an den Baumstamm heran, so daß eine Art weiches Kissen entstand. Dort, wo ich das Laub weggeschoben hatte, entstanden freie, kahle Erdstellen mit unregelmäßigen Konturen.
DIE ERDLINIE
ERDLINIE
Nun begann ich, eine zweite Begrenzungslinie mit Hilfe meiner Füße zu ziehen. Ich ging und stampfte in Form eines Rechtecks um den Baumstamm herum oder zog einen Fuß solange kräftig hinter mir her, bis eine deutliche markierte Linie entstand.
DIE BLATTKONTUR
Dritter Arbeitsschritt war der Übergang von Erde zu Grünpflanzen. Mein erster praktischer Ansatz galt den Pflänzchen. Lebendiges, noch im Wachstum begriffenes Material sollte die Grenze zum abgestorbenen, toten Material bilden. Ich begann also, an weiter entfernteren Stellen, einige Pflänzchen mit den Händen auszugraben und sie in Form einer Linie um den Baumstamm herum wieder einzupflanzen. Diese Arbeit stellte sich jedoch bald als äußerst mühsam und zeitintensiv heraus, so daß sie den Rahmen meiner zeitlichen Möglichkeiten zu sprengen drohte. Deshalb begann ich, über andere Lösungsmöglichkeiten nachzudenken.
Da ich, wie schon erwähnt, keine künstlichen Materialien benutzen wollte, kam ich schließlich auf den Gedanken, Äste der umliegenden Laubbäume zu verwenden. Sie standen in frischem Grün und bildeten einen starken Kontrast zum toten Baumstamm. Also verteilte ich rings um den Baumstamm, außerhalb der Erdmarkierung, Äste so, daß sie eine möglichst klare Kontur zur Erdlinie ergaben und auf der anderen Seite einen fließenden Übergang zu den Grünpflanzen bildeten.
Leider musste ich die Äste, um sie verwenden zu können, von ihrem Baum - und damit von ihrer Lebensquelle - trennen, wodurch eine neue Bedeutungsebene mit ins Spiel kam: Einerseits waren die Äste, nachdem ich sie abgebrochen hatte, noch satt grün und lebendig und passten sich sehr gut den übrigen Pflanzen an, andererseits begannen sie nach zwei Tagen selbst zu vertrocknen und sich dem Braun des toten Baumstammes anzupassen.
ASPEKTE
RITUAL
Wie bei einem Ritus wiederholte ich das Umschreiten des toten Baumes, während ich zuerst die Blätter "ordnete", dann die Erdlinie zog und schließlich die Zweige auslegte. Ich begann jeweils an dem von mir vorher bestimmten Kopfende des Stammes und arbeitete mich dann im Uhrzeigersinn vorwärts, sozusagen spíralförmig (eckige Stilisierung der Spiralform) um den Baumstamm herum.
SPIRALE
Die Spirale hat mich formal und inhaltlich schon immer fasziniert.
Als Kind war sie für mich nichts weiter als ein "lustiger Kringel", den man gut zeichnen konnte.
Zunehmend inhaltliche Bedeutung gewann die Spirale, je älter ich wurde und je mehr ich mich mit Themen wie Leben und Tod, Glauben oder alternativen Heilmethoden auseinandersetzte. Für mich machte es Sinn, die Spirale wegen ihrer Doppeldeutigkeit von Leben und Tod, Wachsen und Vergehen zu gebrauchen. Meine Handlungen empfand ich als stellvertretend für menschliche Eingriffe in die Natur, Eingriffe in den natürlichen Kreislauf von Geburt und Tod.
HOLZ
Der britische Künstler David Nash (geboren 1945) beschreibt die Arbeit mit Holz meiner Meinung nach sehr treffend im Sinne meines eigenen Tuns:
"Ich will eine einfache Annäherung an das Leben und Schaffen. Leben und Arbeit soll die Balance und Kontinuität der Natur reflektieren. Identifiziere ich mich mit der Zeit, der Energie und der Sterblichkeit des Baumes, dann fühle ich mich einbezogen in das Werden und Vergehen der Natur. Ausgezehrt und regeneriert, gebrochen und vereint; schlafendes Vertrauen wird wiedererweckt in jungem Wachstum auf altem Holz."
ASPEKTE DER VERGÄNGLICHKEIT
ERDLINIE
Der Aspekt der Vergänglichkeit spielte in meiner Arbeit eine tragende Rolle. Die ganze "situation trouveé" unterlag vielen äußeren Einflüssen: dem aktuellen Wetter, den Jahreszeiten, den Kühen, dem Bauern/Menschen.
Das Objekt Baumstamm war der Verwitterung ausgesetzt. Meine Eingriffe - Laub aufhäufen, Erdlinie ziehen, Zweige auslegen - waren vergänglich. Alles, was ich tat, war der Natur untergeordnet.
Vergänglichkeit ist für mich ein Thema, mit dem ich mich oft auseinandersetzte, und das mir auch Angst macht. Mit der Arbeit an diesem Baumgrab habe ich auch versucht, ein Stück dieser Furcht abzubauen, indem die gesamte Situation von mir als etwas Positives empfunden wurde bzw. ich die Situation positiv darstellen wollte.
Indem ich mich auf den Zyklus der Natur eingelassen habe, wurde mir das Prinzip der Vergänglichkeit immer klarer und selbstverständlicher. Ich will nicht behaupten, daß ich nun keine Angst mehr vor dem Altern oder vor dem Tod habe, doch konnte ich diese Thematik ein Stück weiter verarbeiten. Wenn meine Arbeit aber ohnehin vergänglich ist, wozu mache ich sie dann?
Abgesehen von der bereits angesprochenen psychologischen Bedeutung, erhielt meine Arbeit ihren Sinn durch die Betrachterinnen, sozusagen die Zwiesprache zwischen Werk und Gruppenmitgliedern und deren Äußerungen, die mir wieder neue Denkanstöße vermittelten. Weitere Bedeutung hatte die Dokumentation mittels Fotoapparat und Polaroidkamera, mit denen ich einzelne Stadien meiner Arbeit, das "fertige" Ergebnis und den späteren Zustand fotografisch festhielt und somit etwas Bleibendes erhielt.
Andreas Vowinckel führt zu dieser Fragestellung aus: "Solche Arbeiten aber gewinnen ihren Sinn erst durch die unmittelbare Wahrnehmung des Betrachters (stellvertretend für ihn kann diese Bedingung auch durch eine photographische Dokumentation erfüllt werden...). Wahrnehmung heißt hier aber nicht mehr ein von seinem Gegenstand losgelöstes, von der Realität entfremdetes, vom inhaltlichen Prozeß der Erkenntnis ausgeschlossenenes Sehen, das auch ignorieren kann. Wahrnehmen heißt hier genau umgekehrt aktives Einbezogensein in einen Erkenntnisprozeß, bei dem die physische Erfahrung von Natur und Landschaft, von Raum und Zeit in ein Existenzgefühl, in Existenzbewußtsein übergeht. Für die Künstler, die in und mit der Natur in einer Landschaft arbeiten, ist diese Einsicht die entscheidende Voraussetzung für die inhaltliche Differenzierung, die sie mit ihrer Arbeit verfolgen."

 
 
Verfasserin: Verena Hamm - Technische Realisierung: Moulay El Hadi Moujahid März 1999